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Titel
Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich


Autor(en)
Gailus, Manfred
Erschienen
Freiburg 2021: Herder Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 20,00
von
Benjamin Ziemann

Der Historiker Manfred Gailus ist mit zahlreichen wichtigen Arbeiten zur protestantischen Kirchen- und Theologiegeschichte Deutschlands in der Zeit von 1933 bis 1945 hervorgetreten. In diesem mit 167 Textseiten schmalen Band legt er nun eine flüssig geschriebene, pointierte, anregende und in vielem überzeugende Gesamtdeutung der Religionsgeschichte im «Dritten Reich» vor. Er behandelt die vielfach dargestellten Details der kirchenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen dem NS-Staat und den beiden christlichen Konfessionskirchen nur am Rande. Sein Interesse gilt vielmehr den vielfältigen Überlappungen und synkretistischen Mischungen zwischen völkischem Nationalismus, Nationalsozialismus und christlichem Glauben, und so analysiert Gailus in erster Linie Gläubigkeit und Religiosität. Im Kern vertritt Gailus dabei zwei grundlegende Thesen. Zum einen ist die Zeit des «Dritten Reiches» für ihn eine religionsproduktive Epoche, entgegen dem nach 1945 von vielen kirchlichen Apologeten vorgebrachten Argument, der Nationalsozialismus habe die Abwendung von Gott befördert und sei als säkulare Bewegung zu verstehen. Gailus spricht dagegen von «gläubigen Zeiten», welche der Aufbruch zur NS-Volksgemeinschaft 1933 einläutete, von einer «Wiederkehr des Religiösen» (S. 11) und von einem «generellen religious revival» (S. 23). Zum anderen betont Gailus die religiöse Dimension der NS-Massenbewegung selbst: die in liturgischer Manier aufgezogenen Massenveranstaltungen, die Beisetzungsrituale und Totenfeiern für prominente Parteimitglieder, die Sakralisierung der politischen Rhetorik des Regimes gerade im Krieg, und nicht zuletzt den mit religiöser Energie aufgeladenen «Erlösungsantisemitismus» (Saul Friedländer), für den die Angehörigen der jüdischen Religionsgemeinschaft «die Position des Bösen schlechthin» markierten (S. 94).
Der Band ist in vier Abschnitte gegliedert. Im ersten geht es um 1933 als «religiöses Erlebnis» der Protestanten, um die Flut der öffentlichen Bekenntnisse zum NS-Staat und der theologischen Deutungen der nun angeblich neu gefundenen Einheit von Christentum und deutscher Nation. Gailus analysiert, oft unter Rückgriff auf die Ergebnisse seiner bahnbrechenden Studie zum protestantischen Milieu in Berlin, die verschiedenen Strömungen innerhalb der protestantischen Kirchen, von den «Deutschen Christen» bis hin zu der überzeugend als «evangelische Frauenbewegung» unter der Leitung von männlichen Bruderräten gedeuteten Bekennenden Kirche (S. 36). Im Blick auf die innerkirchlichen Auseinandersetzungen unter den Protestanten wird aber auch eine andere Tendenz erkennbar, die der These vom religiösen Revival zu widersprechen scheint: der Verbrauch von Kräften im «selbstzerstörerischen internen Kampf» zwischen den kirchlichen Fraktionen (S. 38). Auf die Katholiken wird nur ein kurzer «vergleichender Blick» geworfen, mit Befun den zu den wenigen «braunen Priestern», unter weitgehender Vernachlässigung des Kirchenvolkes. Der zweite Abschnitt analysiert völkische Amalgamierungen des Glaubens: die – gemessen an ihrer marginalen Relevanz – wohl zu ausführlich dargestellte «Deutsche Glaubensbewegung» von Jakob Hauer, die weitaus zahlreicheren völkischen «Gottgläubigen» inner und außerhalb der NSDAP, welche die Bezeichnung «Neuheiden» ablehnten und eine Religiosität jenseits des Christentums suchten, und die christlichen Nationalsozialisten, die völkische Politik mit Restbeständen des Christentums zu verbinden suchten. Der dritte, dem Antisemitismus gewidmete Abschnitt betont mit überzeugenden Argumenten, dass völkische und religiöse Strömungen und Motive in der deutschen Gesellschaft im Ziel der Exklusion der jüdischen Minderheit bei allen sonstigen Gegensätzen «ein Stück weit konform» gingen (S. 95). Eine Fallstudie zum Pogrom am 9. November 1938 zeigt das Schweigen der Priester beider Konfessionen auf, erläutert aber auch die wenigen Ausnahmen wie Helmut Gollwitzer, der die «Trägheit des Herzens» bei einer Rede im Dahlemer Gemeindesaal offen ansprach (S. 106). Der letzte Teil behandelt das Verhalten von Protestanten, Katholiken und nationalsozialistischen «Gottgläubigen» im Krieg, von der zunehmenden Kriegsbegeisterung der Protestanten bis zur ebenfalls steigenden Identifikation der Katholiken mit der kriegführenden Nation, wofür Gailus u.a. auf die wichtigen Forschungen des britischen Historikers Thomas Brodie zurückgreift. Verglichen mit der Analyse der Vorkriegsjahre ist dieser Abschnitt kürzer und in der empirischen Unterfütterung weniger überzeugend.
Damit komme ich zur Kritik. Die erste Kernthese von einem religiösen «Revival» als Signatur der Religionsgeschichte des «Dritten Reiches» scheint mir nicht überzeugend. Gailus trifft mit dem Hinweis auf die zahlreichen Bekenntnisse der Jahre 1933–1935 einen wichtigen Punkt, muss aber auch zugestehen, dass die Katholiken am religiösen «Erlebnis» des Jahres 1933 bestenfalls marginal beteiligt waren (S. 23). Die These vom Wiederaufblühen des Religiösen ist insgesamt zu sehr von den ersten Jahren des NS-Regimes hergedacht, und vernachlässigt die sechs langen Jahre des Krieges. Für die Selbstwahrnehmung der beiden christlichen Konfessionen war die praktizierte Frömmigkeit von überragender Bedeutung. Hier aber zeigt sich bei den Protestanten, dass bereits 1939, also noch bevor die negativen Auswirkungen des Krieges richtig einsetzten, mit einer Abendmahlsbeteiligung von 16.9% ein absoluter Tiefpunkt erreicht war, der fast zehn Punkte niedriger lag als der Höchststand 1934. Bei den Katholiken gab es ebenfalls seit 1935 einen Rückgang der Messbesucher, der sich im Krieg zu einer dramatischen Krise der katholischen Religiosität ausweitete. All dies spricht dafür, die Einflüsse des Weltkrieges als einen entscheidenden Beschleuniger von Säkularisierungsprozessen anzusehen, was im Übrigen auch die wichtige Arbeit von Thomas Brodie nahelegt. Die eher nebensächliche Behandlung der katholischen Minderheit ist eine weitere Schwäche des Buches.
Diese kritischen Anmerkungen dürfen aber nicht von den vielen Vorzügen dieses Bandes ablenken. Manfred Gailus entwickelt mit diesem Band in vielem überzeugende Vorschläge zu einer Gesamtdeutung des religiösen Feldes im Rahmen der NS-Herrschaft. Er legt den Akzent dabei nicht nur auf die Zustimmung von Protestanten und Katholiken zum nationalen Aufbruch des «Dritten Reiches» und auf die moralische Indifferenz und das Versagen der Christen angesichts der Herausforderung von Antisemitismus und Holocaust. Das Innovationspotenzial der Deutung von Gailus liegt gerade darin, dass er auch die NSDAP und die Anhänger des völkischen Nationalismus konsequent in einer religionsgeschichtlichen Perspektive analysiert, und damit neben Abstoßungsprozessen auch die vielfältigen Synkretismen und Überlappungen zwischen völkischem und christlichem Glauben in den Blick bekommt. Diesem wichtigen, die Religionsgeschichte des «Dritten Reiches» neu interpretierenden Buch ist ein breite Leserschaft zu wünschen.

Zitierweise:
Ziemann, Benjamin: Rezension zu: Gailus, Manfred: Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich, Freiburg i. Br. 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 116, 2022, S. 449-451. Online: https://doi.org/10.24894/2673-3641.00127.